DIGITALE MEDIEN SOLLEN ZUNEHMEND IN DER SCHULE EINGESETZT WERDEN. FINDET DER UNTERRICHT DURCH DEN LEHRER DIGITAL VON ZU HAUSE STATT, IST EINE ZUSÄTZLICHE AUFSICHT IN DER SCHULE GRUNDSÄTZLICH NOTWENDIG. —FOTO: DPA (ARCHIV)
KREIS RE. Unterrichten Lehrer wegen Corona digital von zu Hause, muss eine zweite Kraft in der Schule Aufsicht führen. „Wir brauchen eine Aufstockung.“
Kreis RE: Hunderte Lehrer nicht im Präsenzunterricht
Wie viele Lehrkräfte zurzeit aufgrund einer Vorerkrankung per Attest vom Präsenzunterricht befreit sind, lässt sich nicht ganz genau feststellen – auch aus Datenschutzgründen, wie es aus dem Schulministerium heißt.
Laut einer Umfrage des Ministeriums lag am 24. September landesweit der Anteil von Lehrkräften, die aufgrund von Quarantäne oder Attest nicht am Präsenzunterricht teilnehmen konnten, bei etwa vier Prozent.
Bei der Bezirksregierung Münster wird geschätzt, dass etwa sechs bis acht Prozent der Lehrkräfte im Regierungsbezirk wegen Corona für Präsenzunterricht ausfallen.
Im Kreis Recklinghausen arbeiten insgesamt 6394 Lehrkräfte. Bei nur vier Prozent digital unterrichtenden Lehrkräften sind 256 Pädagogen betroffen. Liegt dieser Anteil bei acht Prozent, sind es 512 Lehrkräfte.
Dr. Michael Jentsch ist unzufrieden. „An vielen Schulen fehlen ohnehin Lehrer – und nun müssen wir aufgrund von Corona-Attesten Unterrichtsstunden mit zwei Lehrkräften besetzen. Das reißt ein weiteres Loch in unsere Personalplanungen“, sagt der Leiter des Recklinghäuser Hittorf-Gymnasiums.
Es ist ein weiteres Corona-Problem, mit dem die Schulen klarkommen müssen: Ein Teil der Lehrkräfte ist zurzeit im Zusammenhang mit der Pandemie aufgrund gesundheitlicher Gründe per Attest vom Präsenzunterricht befreit. Diese Pädagogen absolvieren ihren Unterricht meist digital, zum Beispiel mit Hilfe eines Großbildschirms in der Klasse. Allerdings muss in diesen Stunden eine zweite Lehrkraft bei den Schülern Aufsicht führen, um einen reibungslosen Unterricht zu gewährleisten. Das bedeutet einen doppelten Personaleinsatz und dadurch Lücken an anderen Stellen. „Wir haben den Ablauf etwas anders geregelt: Der Lehrer, der aus Gesundheitsgründen zu Hause ist, bereitet die Stunde vor, stellt Materialien zur Verfügung. Im Raum selbst führt eine Vertretungs-Lehrkraft auf dieser Basis die Stunde durch“, erläutert Jentsch das Vorgehen an seiner Schule. Doch auch bei dieser Variante bleibt das Dilemma der personellen Mehrbelastung.
Das Schulministerium bestätigt: „Auch wenn die unterrichtende Lehrkraft über Video zugeschaltet ist, muss also grundsätzlich eine Lehrkraft im Klassenraum Aufsicht führen.“ Ausnahmen habe die Schulleitung zu entscheiden.
Auch für Dr. Rainer Podleschny sind die Doppelbesetzungen ein Problem: „Das ist eine Schwächung des Kollegiums, eigentlich brauchen wir eine personelle Aufstockung“, meint der Leiter des Herwig-Blankertz-Berufskollegs in Recklinghausen. An seiner Schule machen derzeit vier von etwa 100 Lehrkräften digitalen Unterricht, „aber das ist ein fragiles Konstrukt, das sich jederzeit mit der Corona-Entwicklung ändern kann. Je mehr Lehrer betroffen sind, desto schwieriger wird die Situation“, warnt Podleschny und fügt hinzu: „Wir haben ein recht junges Kollegium. An anderen Schulen ist der Anteil an digital Unterrichtenden höher.“
Um das Problem zu lindern, wünscht sich Rainer Podleschny Mittel für pädagogische „Unterstützungskräfte“: „Das müssen keine ausgebildeten Lehrkräfte sein. Denkbar ist zum Beispiel, dass hier Lehramts-Studenten eingestellt werden, die Aufsicht in der Klasse führen und schon mal etwas Praxisluft schnuppern.“ Podleschny betont: „Hier wäre mehr Support durch das Land gut vorstellbar – denn diese Ergänzungskräfte wären Gold wert.“
Dr. Michael Jentsch steht der Idee der Hilfskräfte etwas skeptisch gegenüber: „Unterricht ist nicht wie ein Kinofilm, bei dem das Publikum brav und konzentriert dasitzt. Menschen, die hier für die Aufsicht eingesetzt werden, brauchen ein pädagogisches Grundverständnis, um auch in anstrengenden Phasen der Stunde klarzukommen. Es ist fraglich, ob man hier das passende Personal findet.“
Jentsch versucht zurzeit, das entstandene Personalloch durch verschiedene Maßnahmen zu stopfen, die er aber selbst nicht für ideal hält: „Es machen im Moment relativ viele Lehrkräfte Überstunden, die allerdings in den Folgejahren auch wieder abgebaut werden müssen. So besteht die Gefahr, das Problem zu verschieben. Auch haben wir die Kursgrößen tendenziell etwas erhöht, um ein wenig Reserve zu bekommen. Das ist eine stabile, aber nicht optimale Lösung, denn gerade mit Blick auf Lernrückstände aus der Lockdown-Zeit ist eine individuelle Betreuung wichtig.“
Ein kleiner Lichtblick sind für Jentsch sogenannte Vorgriffsstellen: „Durch die Umstellung auf G9 werden wir mehr Lehrer brauchen. Angesichts der Pandemie stellt das Land nun im Vorgriff auf den zukünftigen höheren Bedarf dann benötigte Lehrkräfte ein: Dadurch haben wir einen Lehrer mehr – aber das ist bei weitem kein vernünftiger Ausgleich für die Doppelbesetzungen im digitalen Bereich.“
Corona-Kindergeld besser an Schulen geben?
Michael Jentsch hätte sich eine frühzeitigere materielle Hilfe während der Pandemie gewünscht: „Die Schulen sind hier zu wenig bedacht worden. Man hätte zum Beispiel das 300-Euro-Corona-Kindergeld zumindest zum Teil an die Schulen geben sollen. Eine frühzeitige bessere finanzielle Ausstattung wäre sehr hilfreich für einen reibungsloseren Ablauf gewesen, wir hätten damit vorausschauender handeln können, zum Beispiel bei Hardware, Personal – oder auch bei dem Zelt, das ich jetzt sehr schnell für die Schulhof-Pausen im Winter besorgen muss.“
Und beim Thema Personal fürchtet Michael Jentsch noch größere Engpässe – „wenn im Herbst die ,normalen‘ Grippeerkrankungen bei den Lehrkräften dazukommen und eventuell noch steigende Corona-Zahlen...“
von links: Dr. Rainer Podleschny (Schulleiter am Herwig-Blankertz Berufskolleg), Dr. Michael Jentsch (Schulleiter am Hittorf-Gymnasium in Recklinghausen)